BIG deal

Tourismus & Ästhetik

 

Kennen Sie das Stendhal-Syndrom? Es wurde im italienischen Florenz, genauer gesagt bei den Uffizi diagnostiziert, und zwar von Graziella Magherini, einer Psychoanalytikerin freudscher Schule. Bei Touristen, welche die Uffizi in Florenz besichtigten, hatte Magherini Zustände mentaler Verwirrung und des Wahnsinns beobachtet. Es gelang ihr, daraus eine Diagnostik zu entwickeln, welche sie "Stendhal-Syndrom" taufte. Dabei handelt es sich um eine blitzartig auftretende Reaktion von Impotenz angesichts Grosser Kunst. Seit nunmehr 15 Jahren existiert diese Bezeichnung und die Art und Weise mit der sie sich verbreitet hat, stellt Polaczek zufolge ein exzellentes Forschungsthema für ExpertInnen der Kommunikationstheorie dar.[1] Polaczek legt nahe, dass die Tatsache, ein solches Syndrom gerade bei den Uffizi und nirgendwo anders festzustellen, auf die Anwesenheit der Psychoanalytikerin zurückzuführen sei… (es war wohl ziemlich heiss dort).

 

Und doch … die Welt ist heutzutage ein grosser und wunderschöner Markt.

So schön, dass  man in Zeiten der Repräsentation von Körpermassen und der Ästhetisierung von Erfahrung im Allgemeinen, nicht wirklich versteht, wie die Kunst – als angestammter Bereich der Ästhetik par excellence – es schafft, diese obsessiv ästhetischen Materialien zu behandeln ohne sich damit zu identifizieren… (Kennen Sie die Kunst des Flughafens? Jene Art hübscher Reisekostümchen, schöner Parfum-Flacons und Traumdüfte aus der Ferne exotischer Landschaften…).

Zweifellos muss man eingestehen, dass der Bedarf an ästhetischen Erfahrungen im Alltag ständig nach neuen Anwendungsräumen drängt, und dass es sich dabei um eine Sehnsucht nach Erfahrungen des Wohlseins handelt. Das Herz dieser sehnenden Suche bildet eine Industrie, welche eine bemerkenswerte Rolle einnimmt und sich jenseits von Automobil-, Erdöl- oder Nuklearindustrie abspielt. Diese allererste Industrie der Welt ist der Tourismus. Nun ist der Tourismus ja schon an sich eine "ästhetische" Suche. In Wirklichkeit geht es einerseits darum, das Feld der Sensibilität eines jeden auszuweiten, indem man sich global auf das bezieht, was die Kunst berührt (insbesondere die Kunst, alles zu ästhetisieren). Andererseits gehts es darum, die Kunst-Erfahrung selbst zu promoten.

Vor kurzer Zeit, in der Epoche Grosser Kunst, ging der Zuschauer in ein Museum oder eine Kathedrale, um sich von ich weiss nicht was für einem Sublimen erfüllen zu lassen, welches ihn fernab jeden Unglücks dieser Welt führte. Heutzutage sehnt sich der zum Tourist gewordene Zuschauer nach Ablenkung, nach Entspannung und Distanz zu Praktiken des Alltags. In Reise und Touristik-Aufenthalt sucht er selbstverständlich nach einer aussergewöhnlichen, vorzugsweise exotischen Erfahrung seiner Sinnlichkeit, welche selbst ästhetisch ist und sich allgemeinhin in ein kulturelles und künstlerisches Programm einschreibt: Pflichtbesuch der örtlichen Nationalgalerie, Erwerb von exotischen Miniaturstatuen, von Postkarten, sowie hier und da der Kauf ungeahnter sexueller Erfahrung. Ästhetisch bereichert geht der Tourist daraus hervor und das Leben ist schön.

Und doch… denkt man in der Epoche der verallgemeinerten ästhetischen Erfahrung nicht genug über die Beziehungen zwischen Tourismus, Flughäfen und Kunst nach. Tatsächlich ist diese allgemeine Ästhetisierung, welche die aktuellen Kunstpraktiken auf mehreren Ebenen berührt, noch nicht in die Richtlinien eines Denkens aktueller Kunst aufgenommen, und nach wie vor sind die gleichen Kriterien am Werke, die schon bemüht wurden um die Kunst "als solche" (an die man weiterhin glaubt) zu denken. Dementsprechend erklärt sich der Unwille, über die touristische Dimension der Kunst und die künstlerische Dimension des Tourismus nachzudenken.

Und doch… ist es sehr wohl das Sehnen nach dem Ästhetischen, welches die Leute bewegt und veranlasst ihr Geld auszugeben, da weiterhin sowohl die Reise als auch der Flughafen (inklusive der exotischen Landschaftsposter, Stewardessuniformen und hübschen Parfum-Fläschchen) im kollektiven Imaginären den Zugang zur Welt und sich selbst bedeuten: Eintrittskarte für ungeheure sinnliche Begegnungen.

Dass die Kunst gar nichts von einer solchen Grösse, gar nichts von BIG hat, wusste man längst. BIG ist nur der Verknüpfungspunkt zwischen den Netzwerken kultureller und sozio-ökonomischer Produktion sowie ihrer Aktualisierung in den elektronischen Netzwerken der Welt. Was da ist, ist da, wir können es ruhig zugeben. Und die Verknüpfung bedeutet mehr als ein grosses Genie und ein grosses Kunstobjekt. Die Praxis der aktuellen Kunst interferiert mit dem grossen kommunikativen Netz: "das Gras wächst von der Mitte her"[2] , d. h. weder von oben noch von unten. Insofern könnte sie als semiotische 'Metissage' definiert werden, in welcher der Künstler gleichzeitig zum Verkäufer, Werber, Kritiker und Konservator wird, während die Stewardess zur Künstlerin wird, welche die Stewardess spielt, die die Künstlerin spielt, die verkauft, wirbt, kritisiert und ihre Kunst konserviert.

In „BIG 2“ wird klar, dass es nicht darum geht, Kunst als kulturelle Massenproduktion anzupreisen, und noch viel weniger darum, die besagte Verfremdung zu kritisieren, die von einer derartigen kulturellen Massenproduktion provoziert wird – was im Übrigen das Vorhandensein einer "Hochkultur" im Gegensatz zu einer "populären Kultur" bestätigen würde -, sondern darum, sich in eine Sphäre des Kon-Taktes mit den Dispositiven solcher kultureller Produktion zu begeben. Im vorliegenden Falle handelt es sich buchstäblich darum, die Dichte der Oberflächen zu berühren. Weit davon entfernt, sich selbst als einfachen Markt- und Umschlagplatz aufzuführen, welcher die populäre Kultur nur reproduzieren oder aber kritisieren würde, führt „BIG 2“ ein Dispositiv der Monstration vor, welches die voreingenommenen Beziehungen zwischen Kunst und Kultur verschiebt und so etwas anderes produziert: Ein Plateau an kaleidoskopischen Wahrnehmungen, dessen kritisches Potential genau darin besteht, die Autorität jeder Kritik zu verschieben. Wenn schon Kritik, dann wenigstens eine, die sich von ihrer spezifischen Positionierung und nicht ihrer Position herleiten lässt: In „BIG 2“ ist alles, was sich als Raum für fixe Positionen auch nur anbieten würde, lediglich ein kaleidoskopischer Übergang ohne Grund. Vorfindbar sind daher nur Positionierungen von begrenzter Reichweite, offen für die Grösse von vergänglichen Faktoren, genauer gesagt: für Körper in Variation.

 

… to engage in dealing with is neither to engage for nor against

 

Paula Caspão, März 2005

Schriftstellerin, Forscherin in Philosophie, ästhetischer Theorie und zeitgenössischem Tanz in Paris. Aus dem Französischen von Petra Sabisch.


[1] Dietmar Polaczek, DU 747 – Was ist Kunst? Zeitschrift für Kultur, Nr. 5, Juni 2005.

[2] So Nicolas Bourriaud, Gilles Deleuze zitierend (Esthétique relationnelle, Paris, Les Presses du réel, 2001, p. 13).